Freitag, 8. Oktober 2010

Sils-Maria – Ospizio Bernina und Thusis – Tinizong

Montag, 19. Juli 2010: Sils-Maria – Pontresina
Mehr als ein Jahr war ich nicht mehr auf dem Antoniusweg. Das Wetter hat nicht mitgespielt. Im Oktober 2010 wich ich wegen Schneefalls auf der Alpennordseite ins Tessin aus, das mir auf der Strada Alta zwei «südlichere Tage» bescherte. Im Frühling lag immer noch Schnee auf den Höhen, sodass ich mich kurzerhand für «Juraquerungen» (ebenfalls ein Wanderführer der Wiegands!) entschied. Von Basel bis Les Breuleux erlebte ich vier frühsommerliche Tage: Kleinlützel, Miécourt (im Elsgau=in der Ajoie), Soubey waren die Etappenorte. Wunderschön! Ich freue mich schon auf die Fortsetzung.
Jetzt aber endlich wieder «on the Antonius Road again». Da Brigitte mit von der Partie ist und sie schon lange über den Berninapass wollte, haben wir das Teilstück Thusis–Sils-Maria ausgelassen (wird nachgeholt!) und gleich in Sils-Maria begonnen. Anfahrt am Vortag, Übernachtung in der Jugendherberge Stille in Sankt Moritz, die uns wegen ihres Umbaus 10 % Rabatt gewährt. So konnten wir schon um neun Uhr in Sils-Maria sein, wo wir noch etwas Proviant einkauften. Auf der Hinfahrt heizte der Bus, da es draußen erst elf Grad war, und der Himmel war ziemlich verhangen.
Wie wir losmarschieren, bricht die Sonne durch und der Himmel blaut. Der Silvaplanersee zeigt verschiedene Farben: Dunkelblau, Flaschengrün, Karamellbraun. Bei einem Halt im Wald stelle ich meinen Rucksack so ungeschickt hin, dass er in einen Bach purzelt. Trotz des mühsamen Zugangs gelingt es mir, den Rucksack wieder herauszufischen, aber es ist einiges nass geworden, ziemlich nass. Da das Wetter immer wärmer wird, beginnen die Sachen schnell zu trocknen. Der Wanderführer und mein «Pilgerbuch» sind gewellt.
Vor Silvaplana ist wieder diese Burg zu bewundern, die aber eine bloße Imitation aus dem Jahre 1906 ist. Von Crap da Sass geht's den Inn entlang weiter, und wir erreichen St. Moritz-Bad. Weiter geht es dem St. Moritzersee entlang: Tiefes Blau, ein postkartenblauer Himmel. Viele Biker, Nordic Walker, Wanderer, Spaziergänger, Hündeler sind unterwegs.
Beim Stazer-See machen wir Rast. Ich lege meine Sachen zum Trocknen aus und genieße das Picknick, bis eine ganze Gesellschaft Italiener sich um uns herum niederlässt und wir den Platz räumen. Den Kaffee und den Apfelstrudel mit Vanillesauce im Restaurant Stazersee kann ich nur empfehlen. Wir wandern über den Hügel (Rundhöckerlandschaft als Souvenir eines Gletschers) durch den Wald und steuern Richtung Celerina.
Weithin sichtbar wacht die Kirche St. Gion über das Tal. Diese romanische Kirche wurde schön renoviert. Zum Glück ist es Montag, denn sie ist nur montags, mittwochs und freitags offen. Die Sigristin ist äußerst nett, sie die Nachfolgerin der von Wiegands so gerühmten Frau Leuenberger. St. Gion ist auch ein Kraftort, und wir genießen das frische Brunnenwasser auf dem Friedhof mit den interessanten Grabsteinen. Auch einige Beelis sind hier zu finden, neben Ferrari und Caviezel. Dann streben wir bei zunehmender Hitze der Bahnlinie entlang bis nach Pontresina, zur Jugendherberge beim Bahnhof.

Dienstag, 20. Juli 2010: Pontresina – Ospizio Bernina
Heute soll es auf den Berninapass (2328 m) gehen. Der Curryreis am Vorabend war etwas fad, der Spaziergang durch das schicke Pontresina eine erholsame Passegiata. Schöne Kirchenfenster in der katholischen Kirche.– Um halb neun Uhr sind wir aus der JH. Da ich noch einen Abstecher zur Santa Maria mache – Kirche verschlossen, interessanter Friedhof, auch eine Danuser dabei, einige Bergführer, deren Grabsteine Seil und Pickel zeigen, vor allem aber der Grabstein des berühmten Gian Marchet Colani, der in J.C. Heers «König der Bernina» zu literarischen Ehren kam –, kann Brigitte Proviant einkaufen. Der Weg ist angenehm und am Morgen noch ohne Schatten. Erster kurzer Halt vor der Montebello-Kurve, dann picknicken wir am Bernina-Fluss vor Bernina Suot. Diesmal sichere ich den Rucksack! Brigitte badet ihre Füße, dann ziehen wir weiter bis zum stattlichen Gebäudekomplex Bernina Suot, der auf seine Vergangenheit mit Stolz zurückblicken kann. Auf der Terrasse trinkt Brigitte ein Bitter Lemon, während ich mir einen Kaffee mit Bündner Nusstorte genehmige. Derlei gestärkt geht es weiter hinauf, an den Talstationen der Bergbahnen Diavolezza und Lagalp vorbei. Auf der Alps da Buond unterqueren wir zweimal die Bahn. Zweimal müssen wir Kuhherden ausweichen. B. will kein Risiko eingehen. Nach dem niedlichen Lej Pitschen (Pendant zum Lützelsee) und dem dunkel glänzenden Lej Nair (Schwarzsee) empfängt uns Kanonendonner: Im Cambrena-Tal übti die Schweizer Armee mit 35mm-Flabkanonen, wie ich aus einem Plakätchen erfahre, das ich später im Restaurant Cambrena entdecke. Eine deutsche Touristin ist entsetzt über diesen Waffenlärm mitten in Friedenszeiten. Über den Damm des etwa drei Kilometer langen Lago Bianco, der sich grünlich wellt, erreichen wir schließlich die Stazione Ospizio Bernina. Es bleibt uns noch Zeit, ins Hospiz hinaufzusteigen und im erwähnten Restaurant auf der Terrasse die Aussicht und ein Panache zu genießen. Um 15.12 Uhr fahren wir talwärts und übernachten in Thusis. Das Hotel Weiß Kreuz empfängt uns freundlich. Da meine Hose auseinander fällt, kaufe ich noch schnell eine neue Wanderhose. Auf der Terrasse speisen wir zu Abend. Leider ist der Service suboptimal.

Mittwoch, 21. Juli 2010: Thusis–Tiefencastel
Brigitte fährt nach Hause, ich attackiere die Etappe Thusis–Tiefencastel. Erstes Zwischenziel ist die zur Jugi umfunktionierte Burg Ehrenfels. Nachdem man sich aus Autobahnzubringern und -brücken herausgewühlt hat, stiegt man den Wald hoch. Da es schon relativ spät ist und sich ein heißer Tag ankündigt, verzichte ich auf die Zeichnungen aus der Steinzeit. Nach der Burg geht es wieder bergab zum stillgelegten Bahnhof Sils im Domleschg, an dessen Fassade eine riesige Portugal-Flagge hängt. Von dort ist es ein Katzensprung zur St. Cassain-Kapelle, die aber leider geschlossen ist. Dafür geben mir die beiden Damen, die bei meiner Ankunft den Friedhof verlassen und die ich später nochmals sehe, eine Abkürzung zum EKZ-Kraftwerk (ja richtig: Elektrizitätswerke des Kantons Zürich!) an der Albula an. Dort summt und brummt es mächtig, immerhin wird hier der ganze Strom für die Rhätische Bahn produziert. Dann folgt, nach kurzer Flachstrecke der Albula entlang, eine steiler Aufstieg in den Wald. Schweiß fließt in Strömen. Parnegl (814 m) heißt die Zwischenetappe, dann steigen wir weiter, zum Teil über historische Hohlwege, zur ehemaligen Passstraße Schiers-Tiefencastel, heute ein Natursträßchen, bei Bikern sehr beliebt. «Der alte Schyn» heißt diese Strecke. Höhepunkt ist ein seit Jahrhunderten bestehender Tunnel. Ein Solarpanel und ein Bewegungsmelder setzen die Lampen im Tunnel in Betrieb. Auch der Weg am steilen Felshang ist gut ausgebaut und mit einem soliden Zaun versehen. So sollte kein Biker in die Tiefe stürzen. Nicht nur Biker, sondern auch eine Familie mit Kinderwagen und Hund begegnen mir. Einem Biker ist die Kette gerissen. Zwischendurch sehe ich auf die Albula hinunter, wo Eisenbahn und Hauptstraße sich hinschlängeln und wieder in Tunnels verschwinden. Doch dann tut sich das Tal auf und Mundain lockt als weitere Zwischenetappe. Aus den Häusern duftet es nach Mittagessen, ich kühle meinen Durst am Brunnen. Unter dem Kirchenvordach verköstige ich mich mit Bündnerfleisch, Darvida, einem Apfel und einem Biberli und genieße die Aussicht. In der Ferne sieht man Alvaschein.
Nach der Mittagspause steige ich zum Rain da Lai hinunter, den ich überquere, und steige wieder bis Nivagl. Über Wiesen schreite ich auf Alvaschein zu, wo ich die barocke Josephskirche besuche. Im Dorf wird Antonius verehrt, in einem Haus ist eine Nische mit seiner Statue zu sehen.
Auf die an der Albula unten liegende Kirche Mistail habe ich mich schon lange gefreut. E. M. hat mir von diesem Bau geschwärmt. Nicht zu Unrecht! Dem säulenlosen, riesig scheinenden quadratischen Raum ist eine Magie eigen. Ich bleibe längere Zeit dort. Die Wandgemälde sind eindrücklich. Der riesige Christophorus auf der linken Seite reicht vom Boden bis zur Decke. In der Mitte sind verschiedene weitere Gemälde. Hier tönen Konzerte und Chorgesänge sicher wundervoll. Auf der rechten Seite hängt eine Kopie des Bruder Klausschen Meditationsbildes, einzelne Kerzen brennen davor. Beim Hinausgehen werfe ich noch einen Blick ins Beinhaus. Wie in Stans sind Schädel und Knochen schön aufgeschichtet zu einem eindrücklichen Memento mori.
In Tiefencastel vermittelt mir der Wirt des Hotel Rätia ein Zimmer bei der Konkurrenz, dem Hotel Julier Albula. Dort nehme ich eine Dusche und lege mich hin. Bin sofort weg. Nach zwei Stunden Erholung besuche ich noch die Stephanskirche von Tiefencastel und esse im Restaurant Rätia.

Donnerstag, 22. Juli 2010: Tiefencastel-Tinizong
Gut ausgeruht starte ich schon um Viertel vor acht. Es geht gleich steil bergauf, und innert kürze bin ich schweißgebadet. Um halb neun erreiche ich die schöne und markante Cosmas- und Damian-Kapelle, wo ich eine kleine Pause mache. In Mon steuere ich auf die Franziskus-Kirche zu, denke dabei an D.S., dem ich ein SMS schicken will, und sehe das Nummernschild eines Autos, das aus Oldenburg stammt. Dort arbeitet ja P.S.
Durch einen Wald steige ich weiter Richtung Del. Wie ich aus dem Wald heraustreten will, versperrt eine rotweiße Kette den Weg, an der eine Tafel hängt: Achtung Schießgefahr! steht drauf. Vermutlich ging sie vergessen, ich habe keinen Schuss gehört, und ich lebe noch.
In Del erfrische ich mich am Brunnen und frage einen Anwohner, wie ich wohl zum Schlüssel der St. Rochus-Kapelle komme. Er lacht und holt mir gleich diesen Schlüssel. Es sei unglaublich, was alles aus Kirchen und Kapellen gestohlen wird: sogar Kirchenglocken verschwinden! In dem schön gelegenen Kapellchen ist St. Rochus mehrfach dargestellt, wie er sein von Pestbeulen beflecktes Bein zeigt und der Hund zu ihm aufblick (el perro de San Roque…). Wiegand schreibt, dass die Pest einst beinahe die ganze Dorfbevölkerung dahin gerafft habe. Viele weiter Heilige zieren fröhlich den Raum, der heutzutage fleißig als Hochzeitskapelle genutzt wird.
Auf dem Weg nach Salouf sind immer wieder Gedichte des Heimatdichters Pater Alexander Lozza zu lesen und zu fotografieren. Vorbei an der Mühle von Panaglia steuere ich die St. Georgskirche von Salouf an, die jedoch verschlossen ist. Die vielen prächtigen Häuser in Salouf überraschen mich. Bald bin ich wieder auf freiem Feld, und es geht an schroffen, schrundigen Bergabhängen vorbei.
In Riom stehe ich vor der eindrücklichen Fassade der St. Laurentius-Kirche, die ich auch besichtige. Vor dem Eingang begrüßt mich ein Labrador. Weiter unten im Dorf ragt hoch und geheimnisvoll eine Burg empor. Im Talgrund stoße ich auf die Julia: So heißt der Fluss, der am Julierpass entspringt und bei Tiefencastel in die Albula fließt. Kurz vor Savognin lockt der Laj Barnagn zu einem Bad. Alt und Jung sonnen sich am Ufer, einige schwimmen. Soll ich…? Ich wil weiter nach Tinizong und vor allem nicht zu spät heimkehren. Schon bin ich in Savognin.
In der Kirche Mariae Empfängnis ruhe ich mich aus. Leider reicht die Kraft nicht mehr aus, die beiden anderen bedeutenden Kirchen von Savognin aufzusuchen: St. Martin und St. Michael. Strammen Schrittes laufe ich flussaufwärts der Julia entlang. Bei einem Elektrizitätswerk biege ich ab, um das etwas höher gelegene Straßendorf Tinizong zu erreichen. Unter dem Lindenbaum vor der St. Blasiuskirche beginne ich meinen Imbiss – doch bald meldet sich ein dringendes Bedürfnis. Gibt es denn in diesem Dorf keine Gaststätte, deren Toilette ich benützen könnte? Die Sonne ist geschlossen, auch eine Mitarbeiterin der hiesigen Käsefabrik kann mir nicht weiter helfen. Ich weiß, dass es ein Hotel-Restaurant Piz d'Err gibt, doch welche Richtung soll ich einschlagen. Zum Glück die richtige… In Tinnetio (=Tinizong) haben schon die Römer ihre Pferde gewechselt, auch ich wechsle hier das Fortbewegungsmittel. Nach Kaffee und Biberli im Restaurant Piz d'Err besteige ich das Postauto, das in nächster Nähe hält. Über Tiefencastel, Thusis, Chur, Pfäffikon SZ fahre ich nach Hause.
Das schöne Wetter ist definitiv vorbei. Im Zug von Rapperswil nach Feldbach rufe ich Brigitte an und frage sie an, ob sie mich nicht am Bahnhof abhole. Was sie aber schließlich nicht kann, denn ein Baum liegt quer über die Straße. Ein Unwetter hat eingesetzt, es stürmt und gießt hektoliterweise. Die zehn Meter zwischen Zug und Bus reichen, dass die meisten Passagiere bis auf die Haut nass werden – mich schützt die schnell ausgepackte Pelerine.

Samstag, 18. Juli 2009

Elm – Thusis (13.–16. Juli 2009)

Montag, 13. Juli 2009
Endlich geht's für eine längere Zeit los! Vorgesehen sind fünf Tag am Stück. Habe ich alles eingepackt? Um sieben Uhr geht's auf den Bus. Im Zug nach Ziegelbrücke sitzen noch andere Wanderer, einige davon steigen in den Glarner Zug um. In Schwanden nehme ich den Bus nach Elm (960 m). Um neun bin ich bei den Sportbahnen. Leider gibt es keinen Kaffee, aber zum Glück ein WC. Dem Sernf entlang stapfe ich mutig voran. Noch weiß ich nicht, was alles auf mich zukommt. Der Rucksack dünkt mich doch etwas schwer. Einmal schmerzt mich der linke Arm, dann das linke Knie. Die Landschaft lässt mich das bald wieder vergessen. Es ist ein herrlicher Morgen. Jede Stunde mache zehn Minuten Pause. In einem Seitental (Wichlen) ballert das Militär. Nach der Unter Stafel steigt es kräftig. Wie ich gerade Pause mache, sehe ich einen Wanderer im Eiltempo heraufsteigen. Vor seiner Ankunft breche ich auf. Doch er holt mich bald ein. Kunststück, bei diesem kleinen Rucksack! Nach der Ober Stafel sehe ich drei Mountainbiker ihre Räder den Steilhang hinauf schieben. Wir werden uns immer wieder begegnen. In der Gurglenschlucht liegen Schneefelder. Jetzt montiere ich die Wanderstöcke. Am Ende eines Schneefeldes sinke ich kurz ein und liege bald wie ein Maikäfer auf dem Rücken. Der kalte Schnee kühlt und nässt meinen Hosenboden. Ich kann nicht aufstehen, denn meine Beine schmerzen höllisch: Die Muskeln sind völlig verkrampft. Muss ich da liegen bleiben? Ich rutsche und robbe zum Felsen. Da strecke und massiere ich meine Beine. Nach längerem Bibäbele geht es langsam weiter. Der Wanderer, der mich unten überholt hat, kommt schon wieder zurück. Er sei nicht ganz oben gewesen. Immerhin… Noch ein Schneefeld, dann suche ich bei einem Bachübergang die Steine aus, die am wenigsten tief im Wasser stehen. Dann habe ich wieder Muße, die großartige Landschaft zu betrachten. Vom Pass ist noch nichts zu sehen. Mir kommt der Aufstieg endlos vor. Erst um drei Uhr bin auf dem Pass (2407 m). Gleichzeitig mit den Bikern, die nach obligatem Pass-Bildchen (statt Gipfel-Bild) sich bald wieder auf ihre Räder schwingen und dem Tal entgegen sausen. Ich jedoch inspiziere die Passhütte, verwerfe aber den Gedanken, hier zu übernachten. Dafür mache ich ein kleines Nickerchen auf der Bank vor der Hütte, einen regelrechten Powernap. Gestärkt geht es an den Abstieg, der zunächst noch ganz nett aussieht. Schotterpassagen sind etwas unangenehmer. Spannend wird es hoch über dem Stausee Lag da Pigniu. Atemberaubend ist der Blick über die steilen Felsen hinunter. Nach der Alp Ranasca versuche ich die Übernachtungsmöglichkeit in Pigniu/Panix zu erreichen. Sie ist nicht erreichbar, aber interessanterweise ruft die Vermieterin zurück. Leider gibt sie mir einen abschlägigen Bescheid: Sie vermiete ihr Studio nicht mehr, ich solle in die Usteria Alpina gehen. Als ich endlich um sieben Uhr in Pigniu ankomme, hat die Usteria ihren Ruhetag. Ich rufe eine Pension im nächsten Dorf an: auch nichts. Nachdem ich mich am Dorfbrunnen voll getrunken habe (ich hatte nämlich viel zu wenig zu trinken dabei), gehe ich zur Post, weil mein Handy plötzlich keinen Empfang mehr hat. Die dortige Telefonkabine akzeptiert aber weder Kleingeld noch irgendeine Kreditkarte, bloß die Swisscom-Karte… Das Telefonbuch hilft mir weiter: Ich suche nach einem Hotel in Andiast (zu Fuß etwa ein Dreiviertel Stunden entfernt) und werde fündig: Es heißt Hotel Postigliun. Und tatsächlich, es ist ein Zimmer frei, das letzte! Und auf meine Bitte macht sich der Wirt frei und fährt mir entgegen. In einem tollen VW Touareg kutschiere ich wie auf Wolken über die rauen und teilweise steilen Feldwege des Val da Pigniu. Im Hotel zeigt mir die freundliche Hoteliersfrau das große Zimmer, und nach einer Dusche genieße ich ein Gourmet-Nachtessen! Der Schlaf lässt nicht lange auf sich warten…

Dienstag, 14. Juli
Ausgeschlafen und gestärkt durch ein schmackhaftes und reichhaltiges Frühstück (hausgemachte Konfitüren, feuchtes Birnbrot, leckeres Birchermüesli usw.) laufe ich um neun Uhr wieder los. Nach dem Einkauf im dörflichen Volg entdecke ich eine St. Antonius-Kapelle, die ich, als Antoniuspilger, natürlich besuchen muss. Der Türsturz ist so niedrig, dass ich mich bücken muss, das Kapellchen ist aber heimelig, und eine Broschüre klärt mich über das Leben des heiligen Antonius auf. Die Strecke, die ich gestern erschöpft geflogen bin, wandere ich jetzt froh zurück. Unterwegs sehe ich noch ein Pfadilager und zwei drei Spaziergänger. Nach anderthalb Stunden bin ich wieder in Pigniu. Ich fotografiere das Haus, wo Suworow vom 6. auf den 7. Oktober 1799 nächtigte. Die Dorfkirche ist dem heiligen Valentin geweiht. Auf der Außenwand sind riesige Fresken des Christophorus und des Georg, zwei Heilige (allerdings nicht kanonische!), denen man auf diesen ehemaligen Passwegen immer wieder begegnet: Der Riese Christophorus beschützt die Reisenden, und der Ritter Georg besiegt das Böse, indem den Drachen ersticht. Im Innern sind natürlich Valentin zu sehen (auch auf dem Wappen des Dorfs, er war ein mildtätiger Bischof von Chur, zu seinen Füßen liegt ein krankes Kind: Valentin von Rätien ist Schutzheiliger gegen Epilepsie), aber auch der heilige Martin, wie er den Mantel teilt. Beim Namen Valentin denke ich den Sohn von Freunden, der jetzt eine neue Schule beginnt. Auf dem Wegweiser entdecke ich mit Freude, dass ich auf dem bündnerischen Jakobsweg bin: Via Son Giachen.
Am Dorfausgang sitzen vor der Marienkapelle zwei Wanderer. Im Innern der Kapelle ist es angenehm kühl, die vielen Schwerter, die auf Mariens Herz zielen, zeigen drastisch ihren Schmerz. Der Weg nach Siat steigt etwa dreihundert Meter hinauf und führt durch Wald und Alpen, bis er sich wieder auf die gleiche Höhe wie Pigniu senkt. Das hätte ich gestern nicht mehr geschafft… Auf der Schattenseite der exponierten Kapelle St. Luzius raste ich. Neben der verschlossenen Tür sticht eine Jakobsmuschel aus der Mauer. Mit zwei älteren, romanisch sprechenden Frauen komme ich noch kurz ins Gespräch über das Romanische. Auf Wiedersehen heißt: A bien seveser.
Im nächsten Dorf, Ruschein, kehre ich ein: Ich habe Lust auf einen Kaffee. An den Nebentischen sitzen eine Gruppe Handwerker und ein Biker.
Schnell bin ich in Ladir. Auch hier steht eine Kirche an bester Lage, sie ist dem heiligen Zeno geweiht. Auf dem Weg nach Falera tropft es verdächtig aus meinem Rucksack, innert kürzester Zeit sind auch meine Hosen nass… Schnell den Rucksack auspacken und retten, was zu retten ist. Rinnt mein Wasserbeutel? Auf jeden Fall wandere ich jetzt mit wehenden Fahnen, damit die Schlafsack-Einlage trocknen kann.
Gerade rechtzeitig zur Busabfahrt treffe ich in Falera ein. In Laax steige ich um und fahre direkt bis Domat-Ems, Plarenga. Meine Unterkunft heißt Schlaf-im-Stroh beim Bauern Jörg. Nach der Dusche ab ins Dorf, denn ich habe Hunger. Doch muss ich lange suchen, bis ich etwas finde: Fast alles ist zu. Schließlich kriege ich Capuns in der Halla. Auch die Radfahrer-Familie, die ebenfalls beim Bauern übernachtet, hat hier gegessen.

Mittwoch, 15. Juli
Schon um 8.07 bin ich auf dem Bus und fahre zurück nach Falera. Mit dem GA brauche ich ja nicht extra zu bezahlen. Schon um neun bin ich in Falera, das früher Fellers hieß. Nach dem Provianteinkauf besichtige ich die Dorfkirche, die dem Herz Jesu gewidmet ist und wo ich eine Kerze anzünde, und dann die berühmte romanische Kirche St. Remigius. Schon beim Aufgang beginnt es zu tröpfeln. In der Kirche selbst gibt es kein Licht. Das «monumentale Abendmahlsfresko» (Wiegand) beeindruckt auch mich sehr. Spannend die Szene mit Jesus, Johannes und Judas.
Wie ich zur Kirche herauskomme, regnet es. Ich mache mich aber dennoch auf die Suche nach den bronzezeitlichen Steinsetzungen. Wie in der Bretagne sind hier Menhire aufgestellt, die zu bestimmten Zeiten im Jahr (einen Monat vor und einen Monat nach der Mittsommernacht) in genau eine bestimmte Richtung zeigen. Mit dem Plan in der Hand suche ich nach dem lächelnden Megalithiker im Wäldchen auf dem Hügel. Es dauert etwas, bis er mir entgegenlächelt…
Jetzt regnet es wirklich. Soll ich überhaupt losmarschieren? Im Dorf gäbe es ein Café… Irgendwie versuche ich es doch. Ob mir das Sprichwort «Pluie du matin n'arrête pas le pèlerin» in den Sinn gekommen ist? Ich mache einen leichten Umweg nach Laax, nördlich von Sagogn.
Lag Grond: Herziges Seelein! Casa da Horgen: Hier könnte man doch mal übernachten. Weiter geht es nach Flims-Waldhaus. Entzückt bin ich vom Lag Prau Tuleritg und dem Lag la Cauma. Dabei erinnere ich mich intensiv an Exkursionen mit einem guten Kollegen von mir an den Crestasee, der nicht weit davon auch im Bergsturzgebiet von Flims (Reinaulta) liegt. Durch den märchenhafte Wald über verschlungene Wege finde ich schließlich das Restaurant Conn, wo ich ziemlich nass ankomme. Bei einer Bündner Gerstensuppe restauriere ich mich ein bisschen, lasse den Regenschutz etwas trocknen und besichtige anschließend die Reinaulta von der modernen Aussichtsplattform aus. Jetzt regnet es nicht mehr. Der Blick auf den mäandrierenden Vorderrhein hinunter ist überwältigend. Vögel segeln durch die Luft, irgendein kleiner belästigt einen viel größeren. Da unten ist die Eisenbahnbrücke, über die wir seinerzeit marschiert sind, da der Strand, wo wir «plegerten», und dort der Bahnhof von Versam.
Durch den Wald geht es dann nach Pintrun zur Brücke über den Flem, durch Feld und Wald nach Porclis und schließlich nach Trin. Beim Weitermarsch nach Tamins komme ich an einem Haus vorbei, wo ich einen spannenden Satz entdecke:
«Tu etwas, wovon du dein Leben lang geträumt hast, und du wirst etwas erleben, wovon du dir nicht hast träumen lassen.»
(Leider konnte ich nicht lesen, von wem der Satz stammt. Das Internet gibt verschiedene Autoren an.)
Vor Tamins filme ich einen Wasserfall und fotografiere ich einen Auto-Viadukt. In Tamins bestaune ich das Schloss und einen Laden für Vespisti (=Vespa-Fans). Nach einem kräftigen Trunk am Dorfbrunnen geht's hinunter nach Reichenau, das seinen Namen vom Kloster Reichenau im Bodensee hat, dem es einst gehört hat. Ich rufe den Bauern Naef von Paspels an, ob er noch Platz im Stroh habe, und erkundige mich telefonisch bei der RhB (Rhätische Bahn), wann die nächste Verbindung nach Paspels sei. Zeit für einen Wurst-Käse-Salat im Bahnhofbüffett, dann auf den Knopf drücken, damit der Zug hält, und Fahrt nach Rhäzüns, wo mich das Postauto nach Tomils bringt. Der Chauffeur ist ein Deutscher und sehr freundlich. Er rät mir, schon in Tomils auszusteigen, wenn ich nach Dusch wolle. Da ich von der «falschen» Seite komme, finde ich den Hof nicht sofort, obwohl ich ganz in der Nähe vorbeilaufe… Auf dem Hof (Erlebnis-Bio-Hof!) ist schon eine kleine Schulklasse, die Aussicht auf das Domleschg ist großartig und die Stimmung friedlich. Die Jugendlichen spielen Verstecken und ich kann mein Tagebuch nachführen.

Donnerstag, 16. Juli 2009
Bäuerin Kathrine Naef serviert mir um Viertel nach sieben einen feinen Zmorgen, den sie noch mit frisch gepflückten Blüten schmückt. Vom luftigen Frühstückstisch aus habe ich eine herrliche Aussicht auf das Domleschg. Um 8.10 Uhr bin ich auf dem Bus bei der Haltestelle son Luregn (St. Lorenz) und fahre nach Rhäzüns, wo ich um halb neun ankomme. Zuerst besuche ich die Pfarrkirche Nossadunna (Mariae Geburt), neben ihr steht eine schmucke kleine Kapelle, die der heiligen Apollonia, der Schutzheiligen gegen Augen- und Zahnleiden, geweiht ist. Nachher frage ich die Briefträgerin, wo sich die zweite Kirche befinde: St. Paul auf dem Hügel am Südende des Dorfes. Während Georg den unter seinem Pferd liegenden Drachen ersticht, liegt Saulus unter seinem Pferd, wie vor Damaskus in einer Vision Jesus sieht und zum Paulus wird. Die vier Kirchenväter Hieronymus, Augustinus, Ambrosius und Gregor wachen über dem Chor, und dann wird Maria zur Himmelskönigin gekrönt.
Am Dorfbrunnen fülle ich meine Wasserflasche mit echtem Rhäzünser und fahre mit dem Zug nach Reichenau (Halt auf Verlangen), wo ich mir den üblichen Kaffee genehmige, bevor es dann um zehn auf die Wanderung geht. Nach einem kurzen Aufstieg komme ich schon an mehreren Pfadilagern vorbei, erhasche zwischen den Bäumen immer wieder Blicke auf den Hinterrhein tief unten und grüße die St. Georgskapelle auf der gegenüberliegenden Seite, die ich leider nicht mehr besucht habe, obwohl sie zu den absoluten Tops gehört: Sie enthält eine großartige Bilderbibel von der Schöpfung bis zur Apokalypse. In einer Waldlichtung picknicke ich und kontrolliere meine Füße auf Blasen. Entwarnung. Ich wandere weiter nach Rothenbrunnen, wo ich das eisenhaltige Wasser des Dorfbrunnes koste, das den Stein rot färbt. Vom ehemaligen Kurbetrieb zeugen schön renovierte Häuser. Heute befindet sich eine psychiatrische Klinik hier. Ein Restaurant namens «Gasthaus Central» entlockt mir ein Schmunzeln: So groß ist Rothenbrunnen auch wieder nicht… Auf einem andern Haus trägt ein Elefant ein Türmchen, aus dessen Fenster ein Mann heraus trompetet, Adam und Eva stehen unter dem obligaten Apfelbaum, und die Jünger Jesu fischen auf dem See Genezareth. Auf dem Portaldach eines modernen Gebäudes mit dem romanischen Namen des Dorfes Giuvaulta tummeln sich schräge Figuren. Über dem Dorf, auf einem steilen, schroff abfallenden Felsen herrscht Schloss Ortenstein über das Tal. Bei brütender Mittagshitze spule ich den Steilhang nach Tomils hinauf. Die weithin sichtbare und auch sehenswerte Kirche Mariae Krönung ist eines der obersten Gebäude im Dorf. Im Innern ist es kühl. Wiederum sind eindrückliche Wandmalereien zu entdecken. St. Martin reitet auf Tomils zu, eine Marienstatue kann die Hände bewegen, und ein reich geschnitztes goldenes Triptychon erhebt sich über dem Altar.
Vor dem Volg finde ich ein schattiges Bänkchen und picknicke dort. Mehrere Biker fahren vorbei. Um halb zwei geht's weiter: Auf dem gleichen Weg wie am Vorabend, als ich mit dem Bus ankam. Doch diesmal will ich in den Denner von Paspels, um die Kapellen-Schlüssel zu holen. Das radikale Schulhaus von Valerio Olgiati gefällt mir. Den Rucksack lasse ich im Denner zurück und steige zur Magdalena hinauf. Eine riesiges Christophorus-Fresko begrüßt einen. Der schmiedeiserne Schlüssel mit dem riesigen Bart öffnet mir die Tür. Der Blick fällt auf die Magdalenen-Fresken: Magdalena begleitet Jesus, wie er Lazarus erweckt, sie salbt Jesus die Füße, sie bekehrt das Fürstenpaar von Marsilia (Marseille), sie entzückt einen Dominikaner und sie stirbt gestärkt vom Brot des Lebens. Auf dem linken Chorbogen verkündet der Erzengel Gabriel die frohe «Mär», und links hört Maria die unerhörte Botschaft.
Dann steige ich wieder hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf zur St. Lorenz-Kapelle. Hier öffnen mir zwei Schlüssel, aber kleineren Kalibers. Einst Pfarrkirche von Paspels, heute zwar renoviert, aber nur noch von neugierigen Kunstliebhabern besuchtes Kapellchen. Es steht höher als Schloss Ortenstein, ebenfalls auf einer steil abfallenden Felsrippe, weithin ins Tal sichtbar. Innen ebenfalls prächtig ausgemalt. Witziges Detail: In der Laibung des Altarfensters ist links (also rechts von «Gott» aus gesehen) Abel und links Kain dargestellt: Jenem winkt Gottes Hand zu, diesen weist sie ab.
Am Schloss Sins, einem historischen Hotel, vorbei, zurück zum Denner und weiter zum Canovasee, wo ich in die Badehose steige. Eine Stunde Erholung und Entspannung am und im lieblichen Waldsee. Dann aber nichts wie los nach Thusis. Über Almens mit seinen zwei so ähnlichen Kirchen, eine reformiert, eine katholisch, an Rietberg vorbei, wo Jürg/Georg Jenatsch 1621 Pompeius Planta ermordete, Scharans links liegen lassend, wo Jenatsch von 1617 an Prädikant (= protestantischer Prediger) war, nach Fürstenau – schon wieder ein Schlosshotel – dem Hinterrhein entlang, zuerst rechts- dann linksufrig bis zum Schwimmbad von Thusis, wo ich kurz später ein Postauto erwische, das mich zum Bahnhof bringt. Auf der Dachterrasse des Restaurant Aquarium verzehre ich einen Fitnessteller und dann bringt mich der Zug nach Tiefencastel. Ich beäuge aus dem Zug die morgige Strecke auf der anderen Talseite: den Schinweg, der hoch über der Schlucht teilweise durch uralte Tunnels und schließlich bis fast nach Lenzerheide hinaufgeht (Mundain), bevor er dann zum tiefen Castell hinuntergeht. In Tiefencastel steuere ich auf die ZSA (=Zivilschutzanlage) im Schulhaus Cumpogna an. Im Hallenbad bin ich der einzige Schwimmer.

Sonntag, 31. Mai 2009

Schwanden – Elm, 30. Mai 2009 (Pfingstsamstag)

Mit dem Fridolinweg habe ich letztes Jahr aufgehört, auf dem Suworow-Weg geht es, nach einem Unterbruch von mehr als sieben Monaten, dieses Jahr weiter: 1799 trieb der damals 70-jährige russische Generalissimus bei einbrechendem Winter über 15'000 Mann über den mehr als 2400 Meter hohen Panixerpass. Da ich selber nicht das gleiche Schicksal wie Hunderte seiner Soldaten erdulden wollte, habe ich schön brav gewartet, bis es Frühling ist. Dabei bin ich aber bloß von Schwanden nach Elm gewandert, an dem leider um halb neun noch geschlossenen Suworow-Museum in Schwanden vorbei, dem wilden Sernf entlang bis zum stattlichen Haus in Elm, wo Suworow einst, wie eine Inschrift stolz verkündet, nächtigte.
In den Frühlingsferien war ich nochmals eine Woche auf dem Jakobsweg unterwegs, wo ich den zweiten Teil der Via Gebennensis, der Route von Genf nach Le Puy-en-Velay, absolvierte. Damit ich mein Rendezvous mit der schwarzen Madonna von Le Puy einhalten konnte, musste ich mächtig Gas geben, denn ich sollte in sieben Tagen wieder zu Hause sein. Dennoch hatte ich wunderschöne Erlebnisse und Begegnungen, die mir unglaublich gut taten. Dass ich am Sonntag in der Pilgermesse um sieben Uhr früh vor allen Pilgern – es waren weit über hundert – die Epistel lesen konnte, hat mich berührt.
Am Freitag nach Auffahrt (Brücke) war ich mit Brigitte in der Vincent Van Gogh-Ausstellung in Basel und anschließend wanderten wir vom französischen Leymen (Tramlinie 10 nach Rodersdorf) über die Burg Landskron nach Mariastein, wo einem in der unterirdischen Felsengrotte eine schwarze Madonna entgegenlächelt – und unzähligen Pilgern Trost spendet.
Und nun habe ich endlich wieder Zeit für den Antonius-Weg gefunden. Kaum bin ich – es ist halb neun - etwas aus Schwanden heraus, ergreift mich wieder das bekannte Gefühl, nach dem ich so süchtig bin: ein Gefühl der Freiheit, der Ungebundenheit und der Gelöstheit, das aber begleitet wird vom Gefühl einer Geborgenheit, einer Zugehörigkeit, einer Geschütztheit. «Le chemin te porte», sagte mir einst Serge, ein französischer Pilger. Das gilt auch für den Antoniusweg, auch wenn ich vermutlich zur Zeit der einzige bin, der bewusst auf ihm unterwegs ist. Ab und zu begegne ich anderen Wanderern oder auch Bikern, aber der Verkehr auf dem Wanderweg hält sich in Grenzen. Ich sehe mehr Kühe, Kälber und Rinder – zum Glück die meisten mit Hörnern – als Menschen. Immer wieder rufe ich innerlich aus: Wie schön das alles ist. Immer wieder knipse ich ein Erinnerungsbildchen dieser schönen Landschaft. Lang geht es durch den Wald, dann kommen wieder blühende Wiesen, frisch gemähte und - etwas seltener – frisch gedüngte Wiesen.
Schneller als gedacht bin ich in Engi. Ich beäuge den neu erstellten Golfplatz, den altertümlichen Skilift und das Staubecken einer elektrischen Anlage. Von der 1969 stillgelegten Sernftalbahn zeugen ein Bahnhofsgebäude und ein Restaurant zum Bahnhof. In Engi wurde früher Schiefer abgebaut. Am Dorfausgang steht ein ausrangierter oder ausgemusterter Schützenstand. Weiter geht es durch blühende Wiesen. Dabei kann ich über vieles nachdenken, was mich zur Zeit beschäftigt, und gleichzeitig – physisch wie psychisch – Distanz gewinnen. Das ist echte Erholung! Denn ich hänge nicht nur schwarzen Gedanken nach, sondern lasse auch die vielen schönen Momente und Erlebnisse noch einmal Revue passieren. Ich darf so viel Schönes erleben, und ich bin so glücklich.
Offenbar sind die Glarner schon früh umweltbewusst gewesen, denn sie haben schon vor fünfhundert Jahren einen ganzen Berg zur jagdfreien Zone erklärt: das Jagdbanngebiet Kärpf.
Bald bin ich im 847 Meter hoch gelegenen Matt, wo ich von einer hölzernen Tafel und ein paar Kühen begrüßt werde. Es ist zehn Uhr, ich bin also gut dran. Gemütlich geht es weiter nach Elm. Vor dem mächtigen «Suworow-Haus» genieße ich im Schatten bei einem Brunnen mein Picknick. Dann schlendere ich noch durch das sehenswerte Dorf: an Vreni Schneiders Sportgeschäft vorbei und manchen historischen Bauten: «Großhaus», Pfarrhaus, Zehntnerhaus. Natürlich komme ich auch zur berühmten Kirche, auf die zweimal im Jahr das Licht der Sonne durch das Martinsloch, einem 17 Meter hohen und 19 Meter breiten Felsenfenster im 2600 Meter hohen Tschingelhorn, fällt. Auf der Nordfassade der Kirche sind auf einer Gedenktafel die 114 Todesopfer aufgelistet, welche der fatale Bergsturz vom 11. September 1881 forderte. Im Innern der schlichten Kirche fallen mir die Sanduhren auf der Kanzel besonders auf, und die Inschrift «Trauerstuhl» neben den Bänken unter der kleinen Empore bewirkt Verwunderung. Ich spaziere noch bis zur Talstation der Ämpächli-Gondelbahn und genehmige mir einen Kaffee und ein echtes Glarner Beggali mit Zwetschgenfüllung, bevor um zehn vor zwei den Bus nach Schwanden besteige. Ich freue mich jetzt schon auf die Überquerung des Panixerpasses!

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Klöntal, Vorauen - Schwanden (15. Oktober 2008)




Wie ich in Klöntal, Vorauen aus dem Postauto steige, steht der Helikopter schon da. Aus dem UFO kommen zwei Herren im Anzug und möchten von mir fotografiert werden. Sie seien von Beromünster hierher geflogen. Wir sind die ersten Gäste im Gasthaus. Eine fette Katze versperrt Kyra den Eingang. Diese nähert sich ihr vorsichtig, doch jene verteidigt ihr Revier mit Buckeln und Fauchen. Die Bardame befördert sie schnell hinter die Theke. Zur Schale Gold (wie man früher einem Milchkaffee sagte) nehme ich natürlich eine Glarner Pastete mit Zwetschenfüllung, nämlich ein Beggeli. Also gestärkt geht's dann auf dem rechten Ufer ostwärts. Der romantische Weg führt durch Wald und Fels und auch am Salomon Gessner-Denkmal vorbei. Immer wieder bewundere ich die Spiegelungen der hohen Berge im See. Das Ufer selber ist noch im Schatten, zu hoch sind die Hänge links und rechts, wo es zum Vrenelis Gärtli hinauf geht. Froh bin ich um das Bänkli auf dem Seedamm, ich habe mehr als anderthalb Stunden für die Seelänge gebraucht. Zudem habe ich etwas wenig geschlafen. Nach der Pause steige ich auf die Schwammhöhe, mit 1095 Metern der höchste Punkt der heutigen Etappe. Vor der Panoramatafel entdecke ich einen Kollegen aus Winterthur. Da wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben, identifizieren wir uns zuerst. Die Aussicht ist prächtig: Noch einmal liegt der ganze See vor einem, und links und rechts die herbstfarbenen Berge. Der Weg nach Glarus, sechshundert Meter tiefer gelegen, ist trotz der Steile angenehm. Das Laub raschelt, und es macht Spaß, es noch mehr zum Rascheln zu bringen. Auf der riesigen Lichtung Vorderer Saggberg, einer vom Vieh schon verlassenen Alp, futtere ich auf einem sonnigen Bänkli mein Picknick, und auch Kyra kommt nicht zu kurz. Im Stotzigen wird wacker geholzt, und es duftet nach frischem Harz. Ein Holzlaster transportiert Unmengen Baumstämme ab. Weiter unten treffe ich auf das angekündigte Bleiche Quartier, wo früher Stoffe gebleicht wurden und heute noch Strom produziert wird. Nächster Orientierungspunkt ist die reformierte Kirche von Glarus, ein beeindruckender neugotischer Bau, neben dem die etwas klotzige katholische Fridolinskirche steht, welche ich besuche. Kyra muss draußen warten, ich hoffe, dass sie niemand klaut. Drinnen zünde ich ein Kerzli für die kranke Tante meiner Frau an. Die (gotische?) Marienstatue und das moderne Fridli-Fenster gefallen mir. Weiter in der Stadt entdecke ich eine Buchhandlung, wo ich eine Neuausgabe von Kaspar Freulers Anna Göldin-Roman bestelle, und ich genieße Sonne und Kaffee vor dem Café City. Natürlich will ich auch noch den Landsgemeinde-Platz sehen, wo mein Urgroßvater ein Restaurant hatte – das ich allerdings nicht finde. Wahrscheinlich existiert es schon lange nicht mehr.  Dafür ist der Platz voll von Autos, und ein Kinderzirkus hält Hof. Die Herbstsonne heizt immer mehr und ich entledige mich zunehmend meiner Klamotten. Soll ich noch nach Schwanden weiter wandern? Wäre ein schöner Abschluss, denn dort ist meine Mutter aufgewachsen. Der Fridli-Weg führt der Linth entlang. Ich laufe der Sonne entgegen, die im Südwesten steht. Das Wasser quirlt und glitzert, dass es eine Freude ist; die Bäume bekennen Farbe, als wären sie in Colorado. Spaziergänger, Hündeler und Velofahrer sind unterwegs: Sie genießen die Sonne. Immer wieder wird man an die industrielle Vergangenheit des Kantons erinnert. In Schwanden sind neue Industrien im Kommen: Kunststoff Schwanden steht in riesigen Lettern auf dem gigantischen Kasten. Mit einem andern Hund nimmt Kyra ein Bad in der Linth, doch bald rufe ich sie wieder heraus, bevor sie von der Strömung mitgerissen wird. In Schwanden versuche ich Spuren der Kindheit meiner Mutter zu entdecken. Wo stand wohl die Bäckerei ihrer Eltern? Die goldenen Zahlen des Kirchenuhr glänzen, das Kupfer des Braukessels der Brauerei Adler ebenfalls, alte Wirtshäuser stehen an der Hauptstraße, hier ist ja die Abzweigung ins Sernftal, das bei der nächsten Etappe drankommt. Ein Blick auf mein Fahrplänchen sagt mir, dass mein Zug in vier Minuten fährt… Nichts wie los! Natürlich habe ich den noch erwischt. Ich kann bis Rapperswil sitzen bleiben. Der Ausflug hat sich gelohnt.

Dienstag, 30. September 2008

Innerthal – Klöntal, Vorauen (27. September 2008)




Schon seit einer Woche konsultiere ich die Wetterprognosen: Es soll nach Hochnebel sonnig werden. Um 07.33 muss ich auf dem Bus sein, damit ich – nach mehrmaligem Umsteigen – um fünf vor neun in Innerthal im Wägital bin. Meine Hündin Kyra ist wiederum dabe. Die übliche Stärkung mit Kaffee und diesmal einem Nussgipfel genehmige ich mir im Gasthaus Stausee, wo sich noch ein paar andere Wanderer und auch Biker für ihre Tour wappnen. Um zwanzig nach neun geht es dann los. Eine Stunde lang laufe ich auf der Straße dem See entlang, an dessen Ufer sich ein Angler an den andern reiht. Am See-Ende steige ich dem Aberenbach entlang zum Oberen Boden und zur Oberalp, bevor ich dann den höchsten Punkt meiner heutigen Etappe, den 1560 Meter hohen Schwialppass (=Pass, der zur Schweinealp führt!), überschreite. Jetzt bin ich auf der Brüschalp, wo ich mit einem Senn ein paar Worte wechsle. Bellend läuft sein Hund Kyra entgegen, welche sich zuerst duckt und dann auf den Rücken legt. Kurz darauf beginnt der von Wiegands im Buch angekündigte «unbequeme Abstieg». Die sonnenbeschienene Grundmauer einer in den Steilhang gebauten Alphütte dient mir als angenehme Rückenlehne für die Mittagsrast.  Zuerst gibt es einen Schluck Tee aus der Thermosflasche, dann kommt eine rote Peperoni an die Reihe, und schließlich wende ich mich dem hauchdünn geschnittenen Mostbröckli und dem Finnenbrot zu. Auch Kyra bekommt ein paar Leckerbissen: getrocknete Straußensehnen. Wasser hat sie unterwegs immer wieder trinken können, Bäche und Brunnen gibt es genug. Der weitere Abstieg ist noch mühsamer als vorher. Nach zwanzig Minuten ist er zum Glück vorbei: Meine Beine sind schon ganz schwabbelig. Der Straße, die rechts auf den Pragelpass führt, folge ich links nach Richisau. Im dortigen Gasthaus genieße ich den Kaffee und eine Spezialität des Hauses: warmen Schokolade-Birnen-Kuchen. Ich benütze die Rast, um mein Pilgerjournal nachzuführen. Auch sind mir unterwegs viele Gedanken gekommen zu Themen, die mich beWEGen. Hier war ja auch Conrad Ferdinand Meyer (mein Diss-Thema).«Die Abendstimmung am Klöntalersee» kaufe ich als Postkarte. Den will ich heute noch erreichen. Vor einer Woche feierte man den hundertsten Geburtstag des Kraftwerks am Löntsch, welches heute der NOK gehört. In Vorauen, wo wir vor drei Jahren mit unseren spanischen Pilgerfreunden Teresa und Jose-Luis und der Basler Pilgerin Katharina waren, besteige ich den Bus und fahre dem herbstlichen Stausee entlang und dann der Löntsch entlang steil hinunter, an einem kleinen «Alpaufzug» (im Herbst!) vorbei über Riedern nach Glarus. Vor dem schlossartigen Bahnhof glänzt im sonnigen Park eine hoher Springbrunnen, und eine Gruppe Jugendlicher genießt den friedlichen Spätsommernachmittag. Schnell noch ein Zugsbillett für Kyra gekauft, die im Zug freundlich begrüßt wird. Kurz vor Rapperswil entdeckt mich eine ehemalige Kollegin, und so schließt diese Reise ganz harmonisch.

Freitag, 11. Juli 2008

Antoniusweg – ein anderer Jakobsweg…


Die Compostela in der Tasche –  und was nun? Die ganze Schweiz auf den beiden Jakobsweg-Varianten von Ost nach West durchquert – und wie weiter? Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, die Schweiz zu Fuß kennen zu lernen, stieß ich auf das phantastische Wanderbuch «Pilger-Querungen» von Margrit und Jürgen Wiegand (www.mj-wiegand.ch). Statt von Romanshorn oder Konstanz nach Genf geht man in diesem Buch von Basel  über Tirano nach Padua, und statt zum heiligen Jakobus, den es von Palästina nach Galizien verschlagen hat, pilgert man zum heiligen Antonius, der aus Portugal stammt und in Oberitalien begraben ist. Dank dem wunderbaren Schweizer ÖV kann man die Schweizer Etappen auch in kleinen Häppchen absolvieren. Wiegands haben das Wunder fertig gebracht, der Luftlinie von Nordwest nach Südost zu folgen und dennoch eine herrliche Wanderroute herauszufinden.



Basel – Bad Bubendorf
 (3. Mai 2007)

Am 3. Mai 2007 ging es los: Ich fuhr mit dem Zug nach Basel, wo ich zuerst die Antonius-Kirche besuchte. Ich kam gerade rechtzeitig – obwohl nicht so geplant – zur Neunuhrmesse in der Seitenkapelle. Ich ließ mir nachher einen Stempel in mein Pilgerheft machen: Sigillum Ecclesiae St. Antonii Basileae

Um zehn Uhr war ich wieder vor dem Bahnhof Basel SBB, von wo aus Wiegands Buch den Weg beschreibt. Es geht durch Pärkli und an Bächlein vorbei, aber auch Autostraßen und Eisenbahn säumen den Weg. Immer wieder werde ich an den heiligen Jakob erinnert, geht es doch 
Richtung St. Jakob-Stadion. Die Uhr an der Jakobskapelle ist mit Ultima latet überschrieben: Die letzte (Stunde) ist verborgen. Ich genehmige mir einen Kaffee im Garten des Wirtshauses St. Jakob. Nachher am monstruösen Jakobsstadion vorbei zur Birs, wo es ganz idyllisch wird. Aufstieg zur Hochebene Rütihard an ehemaligen Bunkern vorbei. Mittagsrast. Das «Paradies» verdient seinen Namen, und ein Gedenkstein erinnert an ein verschwundenes Kloster. Vom Sulzkopf aus Rückblick auf die Stadt Basel und über die Grenze. Eine Burgruine versetzt einen in alte Zeiten. Am frisch renovierten Hotel Bad Schauenburg vorbei nach Nuglar, wo Kapellen und Heiligenstatuen sofort klar machen, dass wir in katholischem Gebiet sind. Runter und dann wieder hinauf an militärischen Übungshäusern und an einem Steinbruch vorbei nach Seltisberg. Um sechs Uhr erreiche ich, ziemlich erschöpft von der Hitze, Bad Bubendorf, wo 1830 die Landbevölkerung Basels sich zum Widerstand gegen die Stadt versammelt hat. Im Garten genieße ich ein feines Nachtessen.


Bad Bubendorf – Obererlinsbach (18. Mai 2007)
Am 18. Mai, wiederum bei schönstem Sonnenschein, kommt die nächste Tranche dran. Nach dem obligaten Znünikaffee, wiederum in der Gaststube, wo sich die Landschäftler verschworen haben, geht es wieder los. Die leicht hügelige Landschaft gefällt mir. In Ramlinsburg trete ich in die moderne Holzkapelle ein. Über den Zunzgenberg und Horen gelange ich nach Zunzgen, das an einer Autobahn liegt. Wiederum Aufstieg zur Tenniker Flue, wo ich die Mittagsrast halte. Die Sommerau verdient ihren Namen, und dann erreiche ich das traumhafte Grindeltal. Ein Wasserfall ergießt sich über 17 Meter, er heißt deshalb auch «Gießen». In Zeglingen möchte ich im Restaurant Rössli ein Bierchen trinken: Doch leider ist dieses Restaurant eingegangen. Nach einer kurzen Rast entschließe ich mich, zum Jurahöhenweg hinauf zu wandern. Am Himmel erscheint ein riesiger weißer Wolkenpilz: Es brennt nirgends, es ist die weit herum sichtbare Dampfwolke aus dem Kernkraftwerk Gösgen. Das Berghaus Schafmatt ist ebenfalls geschlossen, dafür hat dann das Bergrestaurant Barmel offen. Da es aber schon spät ist, gehe ich heroisch dran vorbei und erreiche um halb sieben Obererlinsbach, wo ich im Garten des  Restaurants Hirschen gediegen zu Nacht speise.  

Obererlinsbach – Wohlen (16. Juli 2007)
Um acht bin ich schon im Landhotel Hirschen Erlinsbach, um meinen obligaten Kaffee zu trinken. Über den Hungerberg und den Alpenzeiger steige ich nach Aarau hinunter. Die reformierte Stadtkirche öffnet gleich bei meiner Ankunft. Abstecher in die Buchhandlung Meissner. Kurzer Besuch der katholischen Kirche. Anschließend geht es der Aare entlang, Brücke Biberstein, bis nach Rupperswil. Idyllischer Uferweg («Philosophenweg», fast wie in Heidelberg) und Flusskraftwerke. Hier soll eine besonders reiche Flora und Fauna herrschen: www.auenwald.ch. Auf dem Weg von Rupperswil nach Lenzburg brausen einem die nationalen und regionalen Züge vorbei. Mittagsrast in der Rathausgasse. Weiter geht es Richtung Süd an Sportanlagen und Gefängnis vorbei zum Feufweier, wo sich Enten tummeln und ein Glockenstuhl aufgestellt ist. Den 45 Meter hohen Esterli-Turm besteigen und die Rundsicht auf Lenzburg und das Seetal genießen. Ich freue mich auf den Zvieri im Restaurant Eichberg, von wo aus man auf den Hallwilersee hinuntersehen kann, doch leider ist heute Wirtesonntag. Ich kriege dennoch ein Rivella und einen Sack Chips. Figuren und Szenen aus Gotthelfs Werk sind als Statuen rund ums Restaurant aufgestellt. Weiter geht es durch den Wald zum Tanzplatz, wo ich mich an Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe erinnert fühle. Der Titistei ist ein imposanter Zeuge der Eiszeit. Doch dann verlaufe ich mich im Wald. Es dauert lange, bis ich merke, dass ich nicht in Villmergen, sondern in Sarmenstorf angekommen bin. Es ist bald sechs, und ich habe mich auf halb sieben bei Freunden in Wohlen angemeldet. Kleines Wunder: Ich stehe an einer Bushaltstelle, und es kommt ein Bus, der mich nach Wohlen fährt, wo ich herzlich empfangen werde. Der Spruch des Tages auf einem Teebeutel: Kritisiere nicht und du wirst sofort intuitiv.

Wohlen – Kappel am Albis (17. Juli 2007)
Am andern Tag geht es weiter durch den Wald nach Bremgarten. Das Städtchen in der Reußschlaufe hat mir schon immer gefallen. Am 17. Februar habe ich hier am Reusslauf teilgenommen. Provianteinkauf in der Altstadt. Beim Obertor Brunnen in Pyramidenform. Dann geht es Reuß aufwärts dem Ufer entlang. Bei der Emmaus-Kapelle, die dem Antonius von Padua geweiht ist, spreche ich mit einer kolumbianischen Nonne. Die Kapelle zeigt Bilder aus dem Leben des Heiligen. Prächtiges Kloster Hermetschwil, ebenfalls am Reussufer. Bald wird die Reuss zum Flachsee, Schwäne. Bei der Werdbrücke schwenke ich ostwärts nach Jonen, deren Pfarrkirche ich ebenfalls besuche. Bild von Franz Xaver. Weiter geht es ins Jonental zur gleichnamigen Wallfahrtskirche, vor der ich picknicke und aus dem Pilgerbrunnen trinke. Bevor ich nach Zwillikon komme, geht es unter einer gigantischen Autobahnbrücke hindurch. In Affoltern am Albis gibt es einen Zvierihalt. Ich wandere weiter bis nach Kappel am Albis, wo ich Unterkunft zu finden hoffe. Doch leider ist das Haus der Stille im Umbau. Ich entschließe mich, mit dem Postauto nach Zug zu fahren und dort etwas zu suchen. Von dort spaziere ich zu Fuß nach Cham, was sich als weiter erweist, als ich gedacht habe. Doch der Abstecher hat sich gelohnt: Es kommt zu einem schönen Wiedersehen, und ich werde herzlich aufgenommen.

Zug – Oberägeri (15. Oktober 2007)
Diesmal wandern wir zu zweit, meine Frau und ich. Wir kommen relativ spät in Zug an. Um zehn vor eins sind wir auf dem Blasenberg und schauen auf die Stadt und den See hinunter. Weiter geht es über den Zugerberg, Geissboden, Tubenloch, Boden. Rast bei einem Holzhüsli. In Unterägeri steigt man nochmals in die Höhe, bis man über Oberägeri ist. Abstieg. Zvieri im Café Lido und mit dem Bus ins Hotel Eierhals am Ägerisee. Wunderschöner Herbsttag.

Oberägeri – Einsiedeln (16. Oktober 2007)
Mit dem Bus wieder nach Oberägeri zurück und dann Aufstieg. Zuerst Villenviertel, dann Kuhwiesen und Wald. Aussichtspunkt Ahorn: Blicke auf das Südende des Ägerisees und Rothenturm. Halt bei der Kapelle St. Jost, doch das Bergbeizli hat schon zu. Mittagsrast nach Bibersteig wiederum an die sonnenerwärmte Wand eines Holzhüslis gelehnt. Wir überqueren die Eisenbahnlinie bei der Dritten Altmatt und steigen zum Chatzenstrick hinauf. Blick auf Einsiedeln. Bruder Alexander stempelt mir das Pilgerbuch und vermerkt: Festtag des Hl. Gallus. 

Einsiedeln – Innerthal (11. Juli 2008)
Endlich wieder «on the road» (dazwischen mit Jakobspilgern auf der Via Gebennensis zwischen Genf und Le Puy, aber auch von Buochs am Vierwaldstättersee zum Brünig mit einer Gruppe Schülern), diesmal mit meiner Hündin Kyra. Um neun Uhr in Einsiedeln, Schale Gold und Butterbrezel vor dem Restaurant Bären mit Blick auf das Kloster. Quer durch das Kloster am Marstall vorbei zum Birchli und über die Brücke über den Sihlsee. Aufstieg bei brennender Sonne zum Teil durch Kuhweiden, wo man die weiß-roten Wanderzeichen erspähen muss. Zum Glück gibt es immer wieder Brunnen für die Kühe, wo Kyra sich erfrischen kann. Gegen ein Uhr treffen wir in der Bergwirtschaft Wildegg ein. Draußen sind lange Bänke, an denen die Wanderer sitzen. Ich bestelle viel zu trinken und eine währschafte Suppe. Eine Wolkenwand kommt auf uns zu, schnell bringt der Bauer noch sein Heu unters Dach. Und dann gießt es. Wir wechseln in die Stube, wo ich mir noch einen heißen Schüblig und Kartoffelsalat zu Gemüte führe. Da kommen noch zwei Wanderer tropfnass herein. Es entspannt sich ein lustiges Wechselreden, der rotblonde, bärtige Bauer weiß einen Witz nach dem andern. Bald ist der Regen wieder vorbei, die Sonne trocknet die Bänke draußen schnell. Den Kaffee können wir wieder draußen nehmen. Die Aussicht ist prächtig. Man fühlt sich hier oben wohl, die Menschen kommen sich schnell näher. Ich werde für einen Piloten gehalten, was mir schmeichelt. Danach Abstieg zum Wägitalersee. Kyra kühlt sich im See ab. Um 17.02 fährt der Bus nach Siebnen-Wangen, wo ich die S2 nach Pfäffikon und dort die S5 nach Bubikon nehme.