Freitag, 8. Oktober 2010

Sils-Maria – Ospizio Bernina und Thusis – Tinizong

Montag, 19. Juli 2010: Sils-Maria – Pontresina
Mehr als ein Jahr war ich nicht mehr auf dem Antoniusweg. Das Wetter hat nicht mitgespielt. Im Oktober 2010 wich ich wegen Schneefalls auf der Alpennordseite ins Tessin aus, das mir auf der Strada Alta zwei «südlichere Tage» bescherte. Im Frühling lag immer noch Schnee auf den Höhen, sodass ich mich kurzerhand für «Juraquerungen» (ebenfalls ein Wanderführer der Wiegands!) entschied. Von Basel bis Les Breuleux erlebte ich vier frühsommerliche Tage: Kleinlützel, Miécourt (im Elsgau=in der Ajoie), Soubey waren die Etappenorte. Wunderschön! Ich freue mich schon auf die Fortsetzung.
Jetzt aber endlich wieder «on the Antonius Road again». Da Brigitte mit von der Partie ist und sie schon lange über den Berninapass wollte, haben wir das Teilstück Thusis–Sils-Maria ausgelassen (wird nachgeholt!) und gleich in Sils-Maria begonnen. Anfahrt am Vortag, Übernachtung in der Jugendherberge Stille in Sankt Moritz, die uns wegen ihres Umbaus 10 % Rabatt gewährt. So konnten wir schon um neun Uhr in Sils-Maria sein, wo wir noch etwas Proviant einkauften. Auf der Hinfahrt heizte der Bus, da es draußen erst elf Grad war, und der Himmel war ziemlich verhangen.
Wie wir losmarschieren, bricht die Sonne durch und der Himmel blaut. Der Silvaplanersee zeigt verschiedene Farben: Dunkelblau, Flaschengrün, Karamellbraun. Bei einem Halt im Wald stelle ich meinen Rucksack so ungeschickt hin, dass er in einen Bach purzelt. Trotz des mühsamen Zugangs gelingt es mir, den Rucksack wieder herauszufischen, aber es ist einiges nass geworden, ziemlich nass. Da das Wetter immer wärmer wird, beginnen die Sachen schnell zu trocknen. Der Wanderführer und mein «Pilgerbuch» sind gewellt.
Vor Silvaplana ist wieder diese Burg zu bewundern, die aber eine bloße Imitation aus dem Jahre 1906 ist. Von Crap da Sass geht's den Inn entlang weiter, und wir erreichen St. Moritz-Bad. Weiter geht es dem St. Moritzersee entlang: Tiefes Blau, ein postkartenblauer Himmel. Viele Biker, Nordic Walker, Wanderer, Spaziergänger, Hündeler sind unterwegs.
Beim Stazer-See machen wir Rast. Ich lege meine Sachen zum Trocknen aus und genieße das Picknick, bis eine ganze Gesellschaft Italiener sich um uns herum niederlässt und wir den Platz räumen. Den Kaffee und den Apfelstrudel mit Vanillesauce im Restaurant Stazersee kann ich nur empfehlen. Wir wandern über den Hügel (Rundhöckerlandschaft als Souvenir eines Gletschers) durch den Wald und steuern Richtung Celerina.
Weithin sichtbar wacht die Kirche St. Gion über das Tal. Diese romanische Kirche wurde schön renoviert. Zum Glück ist es Montag, denn sie ist nur montags, mittwochs und freitags offen. Die Sigristin ist äußerst nett, sie die Nachfolgerin der von Wiegands so gerühmten Frau Leuenberger. St. Gion ist auch ein Kraftort, und wir genießen das frische Brunnenwasser auf dem Friedhof mit den interessanten Grabsteinen. Auch einige Beelis sind hier zu finden, neben Ferrari und Caviezel. Dann streben wir bei zunehmender Hitze der Bahnlinie entlang bis nach Pontresina, zur Jugendherberge beim Bahnhof.

Dienstag, 20. Juli 2010: Pontresina – Ospizio Bernina
Heute soll es auf den Berninapass (2328 m) gehen. Der Curryreis am Vorabend war etwas fad, der Spaziergang durch das schicke Pontresina eine erholsame Passegiata. Schöne Kirchenfenster in der katholischen Kirche.– Um halb neun Uhr sind wir aus der JH. Da ich noch einen Abstecher zur Santa Maria mache – Kirche verschlossen, interessanter Friedhof, auch eine Danuser dabei, einige Bergführer, deren Grabsteine Seil und Pickel zeigen, vor allem aber der Grabstein des berühmten Gian Marchet Colani, der in J.C. Heers «König der Bernina» zu literarischen Ehren kam –, kann Brigitte Proviant einkaufen. Der Weg ist angenehm und am Morgen noch ohne Schatten. Erster kurzer Halt vor der Montebello-Kurve, dann picknicken wir am Bernina-Fluss vor Bernina Suot. Diesmal sichere ich den Rucksack! Brigitte badet ihre Füße, dann ziehen wir weiter bis zum stattlichen Gebäudekomplex Bernina Suot, der auf seine Vergangenheit mit Stolz zurückblicken kann. Auf der Terrasse trinkt Brigitte ein Bitter Lemon, während ich mir einen Kaffee mit Bündner Nusstorte genehmige. Derlei gestärkt geht es weiter hinauf, an den Talstationen der Bergbahnen Diavolezza und Lagalp vorbei. Auf der Alps da Buond unterqueren wir zweimal die Bahn. Zweimal müssen wir Kuhherden ausweichen. B. will kein Risiko eingehen. Nach dem niedlichen Lej Pitschen (Pendant zum Lützelsee) und dem dunkel glänzenden Lej Nair (Schwarzsee) empfängt uns Kanonendonner: Im Cambrena-Tal übti die Schweizer Armee mit 35mm-Flabkanonen, wie ich aus einem Plakätchen erfahre, das ich später im Restaurant Cambrena entdecke. Eine deutsche Touristin ist entsetzt über diesen Waffenlärm mitten in Friedenszeiten. Über den Damm des etwa drei Kilometer langen Lago Bianco, der sich grünlich wellt, erreichen wir schließlich die Stazione Ospizio Bernina. Es bleibt uns noch Zeit, ins Hospiz hinaufzusteigen und im erwähnten Restaurant auf der Terrasse die Aussicht und ein Panache zu genießen. Um 15.12 Uhr fahren wir talwärts und übernachten in Thusis. Das Hotel Weiß Kreuz empfängt uns freundlich. Da meine Hose auseinander fällt, kaufe ich noch schnell eine neue Wanderhose. Auf der Terrasse speisen wir zu Abend. Leider ist der Service suboptimal.

Mittwoch, 21. Juli 2010: Thusis–Tiefencastel
Brigitte fährt nach Hause, ich attackiere die Etappe Thusis–Tiefencastel. Erstes Zwischenziel ist die zur Jugi umfunktionierte Burg Ehrenfels. Nachdem man sich aus Autobahnzubringern und -brücken herausgewühlt hat, stiegt man den Wald hoch. Da es schon relativ spät ist und sich ein heißer Tag ankündigt, verzichte ich auf die Zeichnungen aus der Steinzeit. Nach der Burg geht es wieder bergab zum stillgelegten Bahnhof Sils im Domleschg, an dessen Fassade eine riesige Portugal-Flagge hängt. Von dort ist es ein Katzensprung zur St. Cassain-Kapelle, die aber leider geschlossen ist. Dafür geben mir die beiden Damen, die bei meiner Ankunft den Friedhof verlassen und die ich später nochmals sehe, eine Abkürzung zum EKZ-Kraftwerk (ja richtig: Elektrizitätswerke des Kantons Zürich!) an der Albula an. Dort summt und brummt es mächtig, immerhin wird hier der ganze Strom für die Rhätische Bahn produziert. Dann folgt, nach kurzer Flachstrecke der Albula entlang, eine steiler Aufstieg in den Wald. Schweiß fließt in Strömen. Parnegl (814 m) heißt die Zwischenetappe, dann steigen wir weiter, zum Teil über historische Hohlwege, zur ehemaligen Passstraße Schiers-Tiefencastel, heute ein Natursträßchen, bei Bikern sehr beliebt. «Der alte Schyn» heißt diese Strecke. Höhepunkt ist ein seit Jahrhunderten bestehender Tunnel. Ein Solarpanel und ein Bewegungsmelder setzen die Lampen im Tunnel in Betrieb. Auch der Weg am steilen Felshang ist gut ausgebaut und mit einem soliden Zaun versehen. So sollte kein Biker in die Tiefe stürzen. Nicht nur Biker, sondern auch eine Familie mit Kinderwagen und Hund begegnen mir. Einem Biker ist die Kette gerissen. Zwischendurch sehe ich auf die Albula hinunter, wo Eisenbahn und Hauptstraße sich hinschlängeln und wieder in Tunnels verschwinden. Doch dann tut sich das Tal auf und Mundain lockt als weitere Zwischenetappe. Aus den Häusern duftet es nach Mittagessen, ich kühle meinen Durst am Brunnen. Unter dem Kirchenvordach verköstige ich mich mit Bündnerfleisch, Darvida, einem Apfel und einem Biberli und genieße die Aussicht. In der Ferne sieht man Alvaschein.
Nach der Mittagspause steige ich zum Rain da Lai hinunter, den ich überquere, und steige wieder bis Nivagl. Über Wiesen schreite ich auf Alvaschein zu, wo ich die barocke Josephskirche besuche. Im Dorf wird Antonius verehrt, in einem Haus ist eine Nische mit seiner Statue zu sehen.
Auf die an der Albula unten liegende Kirche Mistail habe ich mich schon lange gefreut. E. M. hat mir von diesem Bau geschwärmt. Nicht zu Unrecht! Dem säulenlosen, riesig scheinenden quadratischen Raum ist eine Magie eigen. Ich bleibe längere Zeit dort. Die Wandgemälde sind eindrücklich. Der riesige Christophorus auf der linken Seite reicht vom Boden bis zur Decke. In der Mitte sind verschiedene weitere Gemälde. Hier tönen Konzerte und Chorgesänge sicher wundervoll. Auf der rechten Seite hängt eine Kopie des Bruder Klausschen Meditationsbildes, einzelne Kerzen brennen davor. Beim Hinausgehen werfe ich noch einen Blick ins Beinhaus. Wie in Stans sind Schädel und Knochen schön aufgeschichtet zu einem eindrücklichen Memento mori.
In Tiefencastel vermittelt mir der Wirt des Hotel Rätia ein Zimmer bei der Konkurrenz, dem Hotel Julier Albula. Dort nehme ich eine Dusche und lege mich hin. Bin sofort weg. Nach zwei Stunden Erholung besuche ich noch die Stephanskirche von Tiefencastel und esse im Restaurant Rätia.

Donnerstag, 22. Juli 2010: Tiefencastel-Tinizong
Gut ausgeruht starte ich schon um Viertel vor acht. Es geht gleich steil bergauf, und innert kürze bin ich schweißgebadet. Um halb neun erreiche ich die schöne und markante Cosmas- und Damian-Kapelle, wo ich eine kleine Pause mache. In Mon steuere ich auf die Franziskus-Kirche zu, denke dabei an D.S., dem ich ein SMS schicken will, und sehe das Nummernschild eines Autos, das aus Oldenburg stammt. Dort arbeitet ja P.S.
Durch einen Wald steige ich weiter Richtung Del. Wie ich aus dem Wald heraustreten will, versperrt eine rotweiße Kette den Weg, an der eine Tafel hängt: Achtung Schießgefahr! steht drauf. Vermutlich ging sie vergessen, ich habe keinen Schuss gehört, und ich lebe noch.
In Del erfrische ich mich am Brunnen und frage einen Anwohner, wie ich wohl zum Schlüssel der St. Rochus-Kapelle komme. Er lacht und holt mir gleich diesen Schlüssel. Es sei unglaublich, was alles aus Kirchen und Kapellen gestohlen wird: sogar Kirchenglocken verschwinden! In dem schön gelegenen Kapellchen ist St. Rochus mehrfach dargestellt, wie er sein von Pestbeulen beflecktes Bein zeigt und der Hund zu ihm aufblick (el perro de San Roque…). Wiegand schreibt, dass die Pest einst beinahe die ganze Dorfbevölkerung dahin gerafft habe. Viele weiter Heilige zieren fröhlich den Raum, der heutzutage fleißig als Hochzeitskapelle genutzt wird.
Auf dem Weg nach Salouf sind immer wieder Gedichte des Heimatdichters Pater Alexander Lozza zu lesen und zu fotografieren. Vorbei an der Mühle von Panaglia steuere ich die St. Georgskirche von Salouf an, die jedoch verschlossen ist. Die vielen prächtigen Häuser in Salouf überraschen mich. Bald bin ich wieder auf freiem Feld, und es geht an schroffen, schrundigen Bergabhängen vorbei.
In Riom stehe ich vor der eindrücklichen Fassade der St. Laurentius-Kirche, die ich auch besichtige. Vor dem Eingang begrüßt mich ein Labrador. Weiter unten im Dorf ragt hoch und geheimnisvoll eine Burg empor. Im Talgrund stoße ich auf die Julia: So heißt der Fluss, der am Julierpass entspringt und bei Tiefencastel in die Albula fließt. Kurz vor Savognin lockt der Laj Barnagn zu einem Bad. Alt und Jung sonnen sich am Ufer, einige schwimmen. Soll ich…? Ich wil weiter nach Tinizong und vor allem nicht zu spät heimkehren. Schon bin ich in Savognin.
In der Kirche Mariae Empfängnis ruhe ich mich aus. Leider reicht die Kraft nicht mehr aus, die beiden anderen bedeutenden Kirchen von Savognin aufzusuchen: St. Martin und St. Michael. Strammen Schrittes laufe ich flussaufwärts der Julia entlang. Bei einem Elektrizitätswerk biege ich ab, um das etwas höher gelegene Straßendorf Tinizong zu erreichen. Unter dem Lindenbaum vor der St. Blasiuskirche beginne ich meinen Imbiss – doch bald meldet sich ein dringendes Bedürfnis. Gibt es denn in diesem Dorf keine Gaststätte, deren Toilette ich benützen könnte? Die Sonne ist geschlossen, auch eine Mitarbeiterin der hiesigen Käsefabrik kann mir nicht weiter helfen. Ich weiß, dass es ein Hotel-Restaurant Piz d'Err gibt, doch welche Richtung soll ich einschlagen. Zum Glück die richtige… In Tinnetio (=Tinizong) haben schon die Römer ihre Pferde gewechselt, auch ich wechsle hier das Fortbewegungsmittel. Nach Kaffee und Biberli im Restaurant Piz d'Err besteige ich das Postauto, das in nächster Nähe hält. Über Tiefencastel, Thusis, Chur, Pfäffikon SZ fahre ich nach Hause.
Das schöne Wetter ist definitiv vorbei. Im Zug von Rapperswil nach Feldbach rufe ich Brigitte an und frage sie an, ob sie mich nicht am Bahnhof abhole. Was sie aber schließlich nicht kann, denn ein Baum liegt quer über die Straße. Ein Unwetter hat eingesetzt, es stürmt und gießt hektoliterweise. Die zehn Meter zwischen Zug und Bus reichen, dass die meisten Passagiere bis auf die Haut nass werden – mich schützt die schnell ausgepackte Pelerine.

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