Sonntag, 31. Mai 2009

Schwanden – Elm, 30. Mai 2009 (Pfingstsamstag)

Mit dem Fridolinweg habe ich letztes Jahr aufgehört, auf dem Suworow-Weg geht es, nach einem Unterbruch von mehr als sieben Monaten, dieses Jahr weiter: 1799 trieb der damals 70-jährige russische Generalissimus bei einbrechendem Winter über 15'000 Mann über den mehr als 2400 Meter hohen Panixerpass. Da ich selber nicht das gleiche Schicksal wie Hunderte seiner Soldaten erdulden wollte, habe ich schön brav gewartet, bis es Frühling ist. Dabei bin ich aber bloß von Schwanden nach Elm gewandert, an dem leider um halb neun noch geschlossenen Suworow-Museum in Schwanden vorbei, dem wilden Sernf entlang bis zum stattlichen Haus in Elm, wo Suworow einst, wie eine Inschrift stolz verkündet, nächtigte.
In den Frühlingsferien war ich nochmals eine Woche auf dem Jakobsweg unterwegs, wo ich den zweiten Teil der Via Gebennensis, der Route von Genf nach Le Puy-en-Velay, absolvierte. Damit ich mein Rendezvous mit der schwarzen Madonna von Le Puy einhalten konnte, musste ich mächtig Gas geben, denn ich sollte in sieben Tagen wieder zu Hause sein. Dennoch hatte ich wunderschöne Erlebnisse und Begegnungen, die mir unglaublich gut taten. Dass ich am Sonntag in der Pilgermesse um sieben Uhr früh vor allen Pilgern – es waren weit über hundert – die Epistel lesen konnte, hat mich berührt.
Am Freitag nach Auffahrt (Brücke) war ich mit Brigitte in der Vincent Van Gogh-Ausstellung in Basel und anschließend wanderten wir vom französischen Leymen (Tramlinie 10 nach Rodersdorf) über die Burg Landskron nach Mariastein, wo einem in der unterirdischen Felsengrotte eine schwarze Madonna entgegenlächelt – und unzähligen Pilgern Trost spendet.
Und nun habe ich endlich wieder Zeit für den Antonius-Weg gefunden. Kaum bin ich – es ist halb neun - etwas aus Schwanden heraus, ergreift mich wieder das bekannte Gefühl, nach dem ich so süchtig bin: ein Gefühl der Freiheit, der Ungebundenheit und der Gelöstheit, das aber begleitet wird vom Gefühl einer Geborgenheit, einer Zugehörigkeit, einer Geschütztheit. «Le chemin te porte», sagte mir einst Serge, ein französischer Pilger. Das gilt auch für den Antoniusweg, auch wenn ich vermutlich zur Zeit der einzige bin, der bewusst auf ihm unterwegs ist. Ab und zu begegne ich anderen Wanderern oder auch Bikern, aber der Verkehr auf dem Wanderweg hält sich in Grenzen. Ich sehe mehr Kühe, Kälber und Rinder – zum Glück die meisten mit Hörnern – als Menschen. Immer wieder rufe ich innerlich aus: Wie schön das alles ist. Immer wieder knipse ich ein Erinnerungsbildchen dieser schönen Landschaft. Lang geht es durch den Wald, dann kommen wieder blühende Wiesen, frisch gemähte und - etwas seltener – frisch gedüngte Wiesen.
Schneller als gedacht bin ich in Engi. Ich beäuge den neu erstellten Golfplatz, den altertümlichen Skilift und das Staubecken einer elektrischen Anlage. Von der 1969 stillgelegten Sernftalbahn zeugen ein Bahnhofsgebäude und ein Restaurant zum Bahnhof. In Engi wurde früher Schiefer abgebaut. Am Dorfausgang steht ein ausrangierter oder ausgemusterter Schützenstand. Weiter geht es durch blühende Wiesen. Dabei kann ich über vieles nachdenken, was mich zur Zeit beschäftigt, und gleichzeitig – physisch wie psychisch – Distanz gewinnen. Das ist echte Erholung! Denn ich hänge nicht nur schwarzen Gedanken nach, sondern lasse auch die vielen schönen Momente und Erlebnisse noch einmal Revue passieren. Ich darf so viel Schönes erleben, und ich bin so glücklich.
Offenbar sind die Glarner schon früh umweltbewusst gewesen, denn sie haben schon vor fünfhundert Jahren einen ganzen Berg zur jagdfreien Zone erklärt: das Jagdbanngebiet Kärpf.
Bald bin ich im 847 Meter hoch gelegenen Matt, wo ich von einer hölzernen Tafel und ein paar Kühen begrüßt werde. Es ist zehn Uhr, ich bin also gut dran. Gemütlich geht es weiter nach Elm. Vor dem mächtigen «Suworow-Haus» genieße ich im Schatten bei einem Brunnen mein Picknick. Dann schlendere ich noch durch das sehenswerte Dorf: an Vreni Schneiders Sportgeschäft vorbei und manchen historischen Bauten: «Großhaus», Pfarrhaus, Zehntnerhaus. Natürlich komme ich auch zur berühmten Kirche, auf die zweimal im Jahr das Licht der Sonne durch das Martinsloch, einem 17 Meter hohen und 19 Meter breiten Felsenfenster im 2600 Meter hohen Tschingelhorn, fällt. Auf der Nordfassade der Kirche sind auf einer Gedenktafel die 114 Todesopfer aufgelistet, welche der fatale Bergsturz vom 11. September 1881 forderte. Im Innern der schlichten Kirche fallen mir die Sanduhren auf der Kanzel besonders auf, und die Inschrift «Trauerstuhl» neben den Bänken unter der kleinen Empore bewirkt Verwunderung. Ich spaziere noch bis zur Talstation der Ämpächli-Gondelbahn und genehmige mir einen Kaffee und ein echtes Glarner Beggali mit Zwetschgenfüllung, bevor um zehn vor zwei den Bus nach Schwanden besteige. Ich freue mich jetzt schon auf die Überquerung des Panixerpasses!